Menschen, die in einem Gerichtsverfahren freigesprochen worden sind, können nicht ein zweites Mal für dieselbe Tat angeklagt werden. Dieses Urteil fällte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Fall eines Mannes, der wegen eines gegen ihn eingeleiteten Wiederaufnahmeverfahrens geklagt hatte. Der Entscheid des Gerichts revidiert damit die Ende 2021 in Kraft getretene Reform der Strafprozessordnung zur Wiederaufnahme von Strafverfahren.
Freigesprochener klagt erfolgreich gegen eingeleitetes Wiederaufnahmeverfahren
In seinem Urteil vom 31.10.2023 (Az. 2 BvR 900/22) entschied das BVerfG in Karlsruhe, dass freigesprochene Verdächtige kein zweites Mal allein auf der Basis einer neuen Beweislage für dieselbe Tat angeklagt werden dürfen. Die Ende 2021 in Kraft getretene Reform der Strafprozessordnung (Paragraf 362) erklärte das Gericht für verfassungswidrig und somit nichtig. Anlass für das Urteil war die Verfassungsbeschwerde eines Mannes, gegen den ein Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet worden war.
Dieser war im Jahr 1983 rechtskräftig freigesprochen worden, nachdem ihm die Vergewaltigung und Ermordung der 17-jährigen Schülerin Frederike von Möhlmann vor Gericht nicht nachgewiesen werden konnte. Nach einer DNA-Analyse wurde der Verdächtige 2022 erneut festgenommen und sollte wegen dringenden Tatverdachts vor Gericht gestellt werden. Hierauf klagte der Mann beim BVerfG und erhielt von diesem Recht. Die vorsitzenden Richterinnen und Richter stoppten das Wiederaufnahmeverfahren am Landgericht Venden.
Die Änderung der Strafprozessordnung (Paragraf 362) ermöglichte es, Tatverdächtige nach einem Freispruch auf der Grundlage einer neuen Beweislast erneut anzuklagen. Vorher war es lediglich in wenigen Fällen (bspw. bei einem Geständnis) möglich, einen rechtskräftig beendeten Prozess wiederaufzunehmen. Die Neuregelung, die sich auf schwerwiegende Straftaten (bspw. Mord, Völkermord oder Kriegsverbrechen) beschränkt, war bereits bei ihrem Inkrafttreten 2021 wegen ihrer möglichen Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz umstritten gewesen.
Eine erneute Anklage nach Freispruch widerspricht rechtsstaatlichen Grundsätzen
Die Entscheidung des zweiten Senats fiel mit sechs gegen zwei Stimmen. Bei der Urteilsverkündung erklärte die vorsitzende Richterin Doris König, dass der im Grundgesetz enthaltene Artikel 103 nicht nur ein Mehrfachbestrafungs-, sondern auch ein Mehrfachverfolgungsverbot enthalte. Dieses schütze nicht nur bereits verurteilte, sondern auch freigesprochene Personen vor einem zweiten Strafverfahren in derselben Sache, es gelte der Grundsatz ne bis in idem („nicht zweimal in derselben Sache“). Dementsprechend habe der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wiederaufnahmerechts keinen Gestaltungsspielraum; selbst in dem Fall, dass sich im Nachhinein die Unrichtigkeit eines Urteils herausstellen sollte.
Weiterhin berufe sich die Entscheidung, eine erneute Anklage nach einem Freispruch als verfassungswidrig anzusehen ebenso auf den rechtsstaatlichen Grundsatz, Menschenwürde und Freiheit Betroffener zu schützen und zu garantieren. So heißt es in der Urteilbegründung weiterhin:
Der Einzelne soll darauf vertrauen dürfen, dass er nach einem Urteil wegen des abgeurteilten Sachverhalts nicht nochmals belangt werden kann […] Das grundrechtsgleiche Recht dient damit – ebenso wie Art. 103 Abs. 2 GG […] zugleich der Freiheit und der Menschenwürde des Betroffenen. Es verhindert, dass der Einzelne – gegebenenfalls im Rahmen eines Prozesses […] zum bloßen Objekt der Ermittlung der materiellen Wahrheit herabgestuft wird
Pressemitteilung zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31.10.2023